Freitag, 13. März 2015

Der urige und zerzauste Schuster

In Sucre lebt ein uriger und zerzauste Schuster, gleich neben unserem Haus.
Am Morgen öffnet er eine alte und gebrechliche Tür, hinter welche sich sein kleiner Laden befindet. Er sitzt gewöhnlich in der Mitte des Raumes. Dort klebt, näht oder schleift er Schuhe. Um ihn herum liegen tausende Schuhe. Es sind allesamt Schuhe, die man in unserer Heimat nie zu Gesicht bekommen würde. Es sind allesamt Schuhe, die eine lange Geschichte aufweisen. Es sind Schuhe, die zerzaust aussehen.
Auf unserem Weg in die Stadt stellen wir uns vor seinem Laden auf. Wenn er uns sieht, lächelt er, er ergreift lange unsre Hände und schüttelt sie und sagt ein paar Sätze. Jeden Tag, am Morgen, am Mittag und am Abend findet die gleiche Zeremonie statt. Wir brauchen diese Wiederkehr und fühlen uns wohl bei den Begegnungen mit dem urigen und zerzausten Schuster.
Seine Haare hängen herab.  Einige Zähne fehlen. Das Gesicht ist zerschrumpelt. Und der kleine Raum ringsum ähnelt einer recht merkwürdigen Schuhhalde. Doch dieser Ort zieht uns an. Wenn wir bei ihm sind, fühlen wir uns wohl, bekommen Kraft von ihm. Als wir den Ort verlassen, wünscht er uns Kraft und Schutz von oben, von Gott.
Auch heute kommen Menschen zu seiner kleinen Werkstatt.  Sie kommen zu dem urigen und zerzauste Schuster. Sie sehen die dreckige und kaputte Werkstatt. Aber das stört sie nicht. Mit neue Kraft und einem unerklärlichen Schwung gehen sie in den Tag.
Vielen Menschen bringen immer wieder kaputte Schuhe hin, nur um dem urigen und zerzausten Schuster begegnen zu können. Andere zerstören extra ihr Schuhe, um ihn zu sehen. Wieder andere sammeln alte und kaputte Schuhe, um vor den Schustet treten zu können. Ob die Schuhe überhaupt zu reparieren sind, ist ihnen gleich. Doch immer,  wenn sie ihm begegnen, dem urigen und zerzausten Schuster,  dann bekommen sie neue Kraft und einen unerklärlichen Schwung.

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