Donnerstag, 3. November 2016

Der Armenfriedhof

Es ist der 2. November. Ich bin wieder in Portales, will mit den Kindern arbeiten. Doch alles ist wie ausgestorben. Das Viertel scheint verlassen zu sein. Auch an diesem Tag besuchen die Familien ihre Verstorbenen oder nahe Verwandte, bei denen jemand in der gestorben ist. Ich warte, doch die Situation ändert sich nicht. Außerdem lässt sich der Schlüssel vom Speisesaal nicht auftreiben. Nirgends kann er gefunden werden. So habe ich auch keinen Raum, um gegebenenfalls mit sehr wenigen Kindern zu arbeiten. So entschließe ich mich aufzubrechen, aufzubrechen dorthin, wo jetzt viele Kinder sein werden - bei ihren Verstorbenen.
Ich laufe den Hügel hinab, vorbei an den Steinhütten, die heute so außergewöhnlich leise sind. Laufe hinab bis zur Straße, dorthin, wo die kleinen Busse fahren. Mein Bus ist sehr voll. Die meisten Leute wollen zum Friedhof. Bald quält sich der Bus auf staubigen Pisten aufwärts. Auf einem Hügel - gegenüber von Portales - leert sich mein Bus.
Ich muss nicht mehr weit laufen, dann erreiche ich den Friedhof - den Armenfriedhof. Dieser Friedhof liegt ganz am Rande der Stadt auf einem kargen Hügel. Der Hügel ist steinig und trocken. Es existieren hier kaum Pflanzen, nur einzelne kleine und krüpplige Bäumchen. Doch die Aussicht ist beeindruckend. Einerseits kann man auf die Stadt hinabblicken, zum anderen hat man eine tolle Aussicht auf die Arequipa umgebenden Vulkane.
Hier sind noch mehr Menschen, als auf dem städtischen Friedhof am Tag zuvor. Alles ist angefüllt. Überall wimmelt es. Ich schlängelt mich durch die Grabreihen. Da ruft mich Jesus, ein Kind aus meiner Gruppe. Er ist mit Wassereimern unterwegs, versucht auf diese Weise etwas Geld zu verdienen. Für jeden geschleppt Eimer bekommt er 1 Soles. Ich ziehe weiter, verweile bei einer Kapelle,  die Musik aus den Anden macht. Die Musik ist wieder ohrenbetäubend. Doch sie ist mächtig und beschwingt. Nun winken mich Leute zu sich. Sie sitzen am Grab der Tante. Auch der kleine Hund ist dabei. Wir trinken ein Bier. Die Tante bekommt auch ihren Teil.
Nach einer Weile ziehe ich auf die andere Seite des Hügels, ich begebe mich auf die Sonnensystem, mache ein paar Fotos. Mehrmals werde ich eingeladen von um Gräber stehenden Familien. Ich werde beschenkt mit einem süßen Brot, bekomme etwas Bier, werde befragt. Irgendwann erzählen die Familien von ihren Verstorbenen. Zweimal starben Kinder. Ein Mädchen starb mit 12 Jahren an Blutkrebs, ein Jugendlicher starb mit 16 an einem Nierenleiden. Jedes Jahr kommen die Familien wieder an die Gräber.
Hier auf dem Armenfriedhof am Rande der Stadt, werde ich immer wieder eingeladen, erfahre die Geschichten der Menschen. Langsam geht die Sonne unter. Die Stadt wandelt sich in ein Lichtermeer. Später ist sogar der Mond zu sehen. Und über den Vulkanen liegt noch ein rötlicher Hauch des sich zurückgehenden Tages. Es wird schnell kalt. Durch die traurige und zugleich fröhliche Menge gehend, verlasse den Hügel. Mit einem übervollen Bus geht es abwärts.

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